Manche Astronomen sind von der Sonnenfinsternis am 31.05.2003 vor allem wegen deren ungewöhnlicher Geometrie begeistert. Aus einschlägigen Fachbüchern lernt man, dass der Pfad einer totalen oder ringförmigen Sonnenfinsternis auf der Erdoberfläche viele 1000 Kilometer lang, aber höchstens etwa 360 Kilometer breit ist und dass der Mondschatten dabei stets von West nach Ost über die Erde wandert, weil der Mond die Erde in dieser Richtung umkreist. Schauen wir uns nun den Schattenweg bei der Sonnenfinsternis vom 31.05.03 an (Grafik), so stellen wir fest, dass der Pfad nur etwa 3500 Kilometer lang, aber bis zu 1000 Kilometer breit ist und einen Halbkreis auf der Erdoberfläche formt. Außerdem wandert der Mondschatten von Ost nach West, also in die falsche Richtung. Was ist passiert? Hat der Mond etwa vorübergehend seine Bewegungsrichtung geändert? Ist er der Erde näher gekommen, sodass sein Schatten breiter geworden ist? Nun, nichts davon ist der Fall, es ist alles wie immer, die Lehrbücher müssen nicht umgeschrieben werden. Die ungewöhnliche Geometrie dieser Finsternis hat einen ganz einfachen Grund: es ist Sommer!
Im Sommer ist die Nordhalbkugel der Erde zur Sonne hingeneigt. Daher scheint die Sonne über den Nordpol hinweg und bleibt in hohen nördlichen Breiten nachts über dem nördlichen Horizont als "Mitternachtssonne" sichtbar. Weiter südlich, z.B. in Mitteleuropa, geht sie zumindest für einige Stunden unter. Auf der gegenüberliegenden Seite der Erde, also im Pazifik ist es dementsprechend Tag und die Sonne steht im Süden. Genau in dieser Situation kommt es am 31.05.03 zu einer Sonnenfinsternis. Die nachstehende Animation zeigt den Ablauf der SoFi von einem Standpunkt über der Tagseite der Erde.
Grafik mit WIN-ECLIPSE 3.0 von Heinz Sscibrany.
Alles hat seine Richtigkeit, der Mondschatten wandert von West nach Ost. Da die Sonne über den Nordpol auf die Nachtseite der Erde scheint, fällt auch der Mondschatten dorthin. Stellen Sie nun einmal eine Tasse oder einen anderen Gegenstand links von sich auf den Tisch, an dem sie gerade sitzen. Nun gehen Sie auf die andere Seite des Tisches. Die Tasse steht immer noch an der gleichen Stelle, aber von Ihrem neuen Standpunkt aus rechts von Ihnen. So ist es auch mit dem Mondschatten am 31.05.03: in Europa sitzen wir sozusagen auf der anderen Seite des Tisches, und deshalb wandert der Mondschatten aus unserer Perspektive von rechts nach links und nicht wie auf der pazifischen Seite von links nach rechts. - Eigentlich ganz einfach zu verstehen, oder?
Auch die ungewöhnliche Breite des Mondschattens ist nicht schwer zu erklären. Die Zentralzone (bei einer ringförmigen SoFi nicht der Kernschatten, sondern der sog. Gegenschatten) verfehlt die Erde beinahe, weil die Sonne während der SoFi nur so gerade eben über den nördlichen Horizont lugt. Dem Mond geht es deshalb nicht anders als Ihnen bei tiefstehender Sonne: er wirft einen langen Schatten. Die Angaben zur Schattenbreite in den astronomischen Büchern beziehen sich aber stets auf die senkrechte Projektion des Schattens auf die Erdoberfläche, oder einfach ausgedrückt: auf den kurzen Schatten, den Sie an einem Mittag in den Tropen werfen würden ...
Nun müssen wir also nur noch klären, warum der Weg des Schattens halbkreisförmig ist. Dazu schauen wir uns einmal den Schattenweg bei einer anderen ringförmigen SoFi in Polnähe an, nämlich bei derjenigen vom 07.02.2008. Er ist gekrümmt, wie die Zentralzone jeder ringförmigen oder totalen SoFi, und auch wieder ungewöhnlich breit wegen des niedrigen Sonnenstandes.
Grafik mit WIN-ECLIPSE 3.0 von Heinz Sscibrany.
So ähnlich, nur noch kürzer und breiter sieht eigentlich auch der Schattenweg am 31.05.2003 aus. Bloss: diesmal steht die Sonne so tief, dass ein Teil des Mondschattens die Erde verfehlt und in den Weltraum fällt. Ein Teil der Zentralzone wird also durch die Grenze zwischen Tag und Nacht abgeschnitten. Nun tun wir einmal so, als würde das auch 2008 der Fall sein. Das Ergebnis ist eine halbkreisförmige Zentralzone - wie es in 2003 tatsächlich passiert.
Grafik mit WIN-ECLIPSE 3.0 von Heinz Sscibrany.
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